Dieser Text handelt von den Eltern der Heldin, die mich längst in ihre Familie aufgenommen haben. Ich nenne sie hier einfach „Dade“ und „Babo“, was auf Kurdisch Mama und Papa bedeutet.
„Komm oben, frühstücken,“ sagt Dade. Ich war schon halb wach, als sie klingelte, ziehe mir schnell eine Jogginghose über und folge ihr. Babo sitzt in der Ecke der Bank, die Beine in der langen, orientalisch anmutenden Baumwollunterhose lang ausgestreckt. Er telefoniert, das Telefon auf Lautsprecher gestellt, hält ein Stück von seinem Gesicht entfernt und brüllt hinein, als müsste er die Entfernung zur irakischen Heimat ohne technische Hilfe überbrücken. Dade stellt mir still ein Glas schwarzen Tee hin und schiebt die große Zuckerschale herüber. Draußen peitscht der Regen gegen die Fensterscheibe. Die morgendliche Stille der Wohnung ohne die Heldin, die Prinzessin und ihre fünf Brüder und ohne Besuch von Verwandten erscheint mir unwirklich. Dade setzt sich hin und lauscht aufmerksam dem Telefonat. Ich mache mich über meine drei Spiegeleier her. Mit dem dünnen Fladenbrot trenne ich immer ein Stück Ei ab, wickele es ein und stecke es in den Mund. Besteck braucht man für diese Art zu Essen nicht. Honig, Joghurt, selber eingelegter Schafskäse und gebratenes Aubergingenmus: Ein typisches Frühstück bei Dade.
Das Telefonat ist beendet. Er wendet sich mir zu: „Wie geht’s?“ – „Gut. Und dir?“ – „Auch gut.“ Es folgt die obligatorische Frage auf Kurdisch: „Bist du meine Tochter?“ Ich bejahe. Das ist unser übliches Gespräch, für viel mehr reichen die wechselseitigen Sprachkenntnisse und die gemeinsamen Interessen nicht. Er erhebt sich von der Eckbank, seine Spiegeleier hat er kaum angerührt. Es gehört dazu, den Teller halbvoll stehen zu lassen. Schon beim ersten Befüllen muss er so überquellen, dass du ihn gar nicht leer kriegen kannst. Sonst haben dir die Gastgeber nicht genug zu Essen gegeben, das wäre eine unermessliche Katastrophe! Zum Glück verstehen uns Dade und ich inzwischen in dieser Hinsicht. Sie akzeptiert, wenn ich nur wenig auf den Teller will und es dann leer esse. „Schwiegermutter tot“ sagt sie dann. Eine Redensart besagt, dass unanständige Mädchen, die ihren Teller völlig leer essen, damit den Kopf ihrer Schwiegermutter verspeisen. Sie findet das gar nicht so schlecht. Nichts wünscht sie mir weniger als eine nervige Schwiegermutter. Wir sind also zu der informellen Übereinkunft gekommen, dass Teller-leer-essen ok ist, genau wie Kleine-Portionen-austeilen. Und ich habe notgedrungen auch gelernt, doch mal die Hälfte stehen zu lassen, wenn sie mir zu viel gegeben hat.
Babo kommt zurück, mit aktuellen Briefen vom Arbeitsamt und der Krankenkasse. Ich rufe dort an, weil selbst ich sie nicht verstehe und fülle anschließend die Formulare aus. Dade schenkt Tee nach. Nach dem Essen muss man noch ein Glas von dem schwarzen Tee mit viel Zucker trinken, sonst ist man ein schlechter Gast. Es dauerte einige Zeit, bis ich das herausgefunden hatte: Dass der Protest beim Verlassen der Wohnung deutlich geringer ist, wenn ich den Tee noch abgewartet habe.