Das ist die zweite Geschichte über Dade und Babo, die Eltern der Heldin und der Prinzessin.
Anfangs war er der Sprecher. Sie rief ihn zum Übersetzen. Er war stolz, einen Deutschkurs besucht zu haben. Er konnte seinen Namen in Druckbuchstaben schreiben und die Namen der übrigen Familienmitglieder im Adressfeld von Briefen identifizieren. Beide haben in ihrer Heimat nur die fünfjährige Grundschule besucht. Dort lernten sie Arabisch zu sprechen, lesen und schreiben. Für ihre Muttersprache Kurdisch sie keine Buchstaben (unsere lateinischen Buchstaben waren ihnen natürlich auch fremd). Es dauerte einige Zeit, bis ich Tragweite dieser Sachverhalte ansatzweise begriffen hatte. Mich in meiner Muttersprache nicht schriftlich ausdrücken können. Keine Lese- und Buchkultur zu haben. Nur wenig schreiben, hauptsächlich Telefonnummern und Notizen, in ungelenker Schrift einer fremden Sprache. Das ist kein Zufall. Es ist nicht nur die Benachteiligung von Kurden in ihren Heimatländern mit einem sowieso niedrigen Bildungsstandard. Es ist auch die jesidische Kultur, eine Minderheit unter den Kurden, die ohnehin schon Minderheit sind. Eine kleine Gruppe, die extrem eng zusammenhält. Die sich seit Jahrhunderten stark von der arabischen Mehrheitsgesellschaft abgrenzt. Unter anderem indem sie ihren Kindern bewusst den Schulbesuch verweigerte, um sie nicht dem arabischen Einfluss auszusetzen. Eine hohe Wertschätzung für formale Bildung ist in dieser Kultur also nicht tief verankert. Dades und Babos Erfahrungen beschränken sich auf eine durch eine fremde Macht aufgezwungene Schule, in der sie eine fremde Sprache lernten. Dennoch wissen sie, dass es hier anders ist, dass ihre Kinder dringend Schulbildung benötigen. Sich vorzustellen, dass dort aber sehr viel mehr passiert, als Lesen und Schreiben lernen, übersteigt trotzdem ihr Vorstellungsvermögen. Dass die Jungen die Hausaufgaben in der Nachmittagsbetreuung machen, ist einerseits ein Segen. Andererseits entwickeln die Eltern so kaum mehr Verständnis für diese fremde Welt.
So habe ich unzählige Male Buntstifte, Malbücher, Blöcke an die kleinen Mädchen verschenkt. Jedes Mal war es nach kurzer Zeit verschwunden. Bis heute bin ich nicht dahinter gekommen, ob Dade solches Spielzeug sofort wegwirft oder in entlegene Schränke verfrachtet, wenn die Kinder das Interesse verlieren. Oder ob sieben Kinder es tatsächlich in kürzester Zeit zerstören.
Dade beteuerte oft, besser Deutsch lernen zu wollen. Ich rief bei der Volkshochschule an und die Kursleiterin lud uns zu einem Schnupperbesuch für den gerade beginnenden Alphabetisierungskurs ein. Den nahm Dade aber gar nicht erst wahr, weil der Kurs keine Kinderbetreuung hatte. Die Prinzessin war erst ein halbes Jahr alt. So einigten wir uns eines Tages, dass ich ihre Lehrerin sein sollte. Wir fingen mit dem Erkennen und schreiben einzelner Buchstaben an, nicht mehr als 5 oder 6. Die konnte sie schließlich auf Lebensmittelverpackungen wiedererkennen und auch selber schreiben. Worte aus den bekannten Buchstaben konnte sie buchstabieren aber die Buchstaben nicht zum Wort zusammenfügen. Ich kaufte ein Alphabetisierungsbuch für Erwachsene. Sie war eifrig dabei, Buchstaben abzuschreiben, aber eher abgeneigt darüber nachzudenken und zu sprechen. So weit waren wir, als ich die Stadt für ein halbes Jahr verließ. Als ich zurückkam, war ich freudig überrascht, dass die mühsam erzielten Erfolge geblieben waren: Sie erinnerte sich an die bekannten Buchstaben. Wir setzten unser Projekt fort. Geplant war zweimal pro Woche. Aber oft genug wurde es ihr zu viel. Körperlich ist sie immer am Limit, ständig bei verschiedenen Ärzten. Hinzu kommen Arzttermine mit den Kindern und natürlich der normale Wahnsinn eines 9-Personen-Haushaltes. Die vereinbarten Lerntermine konnten also nicht wirklich regelmäßig eingehalten werden. Langsam aber sicher zeigten sich über die Monate dennoch Fortschritte. Immer häufiger gelang es ihr, Buchstaben zu Worten zusammenzuziehen. Und zum ersten Mal kaufte sie den Mädchen selber Buntstifte und passte auf, dass sie nicht verloren gingen!
Mit der Zeit rückte der dritte Geburtstag der kleinen Prinzessin näher und eine große Sorge von Dade wuchs ins Unermessliche. Würde das Arbeitsamt sie zu einem Integrationskurs verpflichten, wenn das jüngste Kind im Kindergarten war? Sie hatte schreckliche Angst vor einer „Schule“. Sie befürchtete strenge Lehrkräfte und Mitschüler, die sie auslachen würden. Sie würde den Anforderungen nicht gerecht werden. Außerdem würde sie zu dem Kurs mit dem Bus durch die ganze Stadt fahren müssen und er würde jeden Vormittag stattfinden. Sie wusste nicht, wie sie ihren Haushalt dann noch schaffen sollte. Mir machte insbesondere Sorgen, dass sie körperlich ständig an ihre Grenzen kam, fast immer unter Kopf- und/oder Rückenschmerzen litt. Ich informierte mich über Sprachkurse und fand ein Projekt in unserem Stadtteil. Ein Alphabetisierungskurs nur für Frauen, mit Kinderbetreuung und kostenlos. Es kostete mich einige Überzeugungsarbeit sie zu einer Besichtigung zu motivieren. Nach diesem Besuch war zumindest das Gespenst „Deutschkurs“ weniger bedrohlich. Aber es war kein anerkannter Integrationskurs, nur ein zweimal wöchentlich stattfindender Deutschkurs. Also blieb die Angst vor dem Arbeitsamt. Nach dem Kindergarteneintritt der Kleinen wurde die Angst wieder größer und ich versuchte erneut die Flucht nach vor. In einem Gespräch beim Arbeitsamt konnten wir den Sachbearbeiter schnell überzeugen, dass der Besuch des Projekts genau das Richtige für Dade war und ein Integrationskurs sie überfordern würde.
Seitdem geht sie mehr oder weniger regelmäßig zu dem Kurs. Ihre Gesundheit oder Arzttermine machen ihr immer noch oft einen Strich durch die Rechnung. Und einmal ging sie nicht, aus Angst vor einem Test. Obwohl der Kurs selbst wegen des niedrigen Niveaus und der unregelmäßigen Teilnahme sie wohl nur wenig weitergebracht hat: Sie erzählt mit strahlenden Augen, von einem Lob der Lehrerin. Sie ist die beste im Kurs! Schule ist nicht mehr böse. Das war es wert, auch wenn Lesen und Schreiben immer noch nicht ihre Kernkompetenzen sind! Viel mehr beeindruckt mich auch, wie viel sie in den fünf Jahren, die ich sie kenne, zu verstehen und sprachlich auszudrücken gelernt hat. Die Erzieherinnen im Kindergarten und die Ärzte loben ihr Deutsch und ihr gewachsenes Selbstbewusstsein. Sie begleitet jetzt andere Frauen zu Terminen um zu dolmetschen. Und ihr Mann ruft sie zur Hilfe, wenn er mich nicht versteht.